Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen über die Fabel - Kapitel 7
Unter den aesopischen Fabeln des Planudes lieset man auch folgendes: »Der Biber ist ein vierfüßiges Tier, das meistens im Wasser wohnet und dessen Geilen in der Medizin von großem Nutzen sind. Wenn nun dieses Tier von den Menschen verfolgt wird und ihnen nicht mehr entkommen kann, was tut es? Es beißt sich selbst die Geilen ab und wirft sie seinen Verfolgern zu. Denn es weiß gar wohl, daß man ihm nur dieserwegen nachstellet und es sein Leben und seine Freiheit wohlfeiler nicht erkaufen kann.«
Ist das eine Fabel? Es liegt wenigstens eine vortreffliche Moral darin. Und dennoch wird sich niemand bedenken, ihr den Namen einer Fabel abzusprechen. Nur über die Ursache, warum er ihr abzusprechen sei, werden sich vielleicht die meisten bedenken und uns doch endlich eine falsche angeben. Es ist nichts als eine Naturgeschichte: würde man vielleicht mit dem Verfasser der Critischen Briefe *) sagen. Aber gleichwohl, würde ich mit ebendiesem Verfasser antworten, handelt hier der Biber nicht aus bloßem Instinkt, er handelt aus freier Wahl und nach reifer Überlegung, denn er weiß es, warum er verfolgt wird (γινωσκων ου χαριν διωκεται). Diese Erhebung des Instinkts zur Vernunft, wenn ich ihm glauben soll, macht es ja eben, daß eine Begegnis aus dem Reiche der Tiere zu einer Fabel wird. Warum wird sie es denn hier nicht? Ich sage: sie wird es deswegen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet. Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Individuo zu, und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was also hier von dem ganzen Geschlechte der Biber gesagt wird, hätte müssen nur von einem einzigen Biber gesagt werden, und alsdenn wäre es eine Fabel geworden
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